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Titel
Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt


Autor(en)
Chamayou, Grégoire
Erschienen
Berlin 2019: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Graf, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Grégoire Chamayous Buch über das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in den USA und Westeuropa seit den 1970er-Jahren behandelt zentrale Fragen einer Geschichte unserer Gegenwart. Es lässt sich in Windeseile lesen wie ein locker geschriebener Roman. Komplexe ökonomische, soziologische und philosophische Theorien auf diese Weise zugänglich zu machen, ist eine außerordentliche Leistung, die auch entsprechend medial gewürdigt wurde. Nichtsdestoweniger handelt es sich bei dem Buch des französischen Philosophen sowohl um schlechte Geschichtswissenschaft als auch um schlechte Philosophie. Geschickte Zitatmontagen ersetzen bei Chamayou weitgehend die Interpretation und Argumentation, evozieren aber das Narrativ eines Kampfes von Gut (die Gesellschaft) gegen Böse (die Wirtschaft und ihre (neo-)liberalen Vordenker). Angesichts eines derart simplen Welterklärungsschemas, um dessen Eindeutigkeit man den Autor im Verlauf der Lektüre zu beneiden beginnt, hilft es auch nichts, wenn man seine politische Position sympathisch findet.

Chamayous Ausgangspunkt ist die Diagnose einer Krise der Regierbarkeit in den 1970er-Jahren, und zwar „in der Form, wie sie […] von denen wahrgenommen und theoretisch konzipiert wurde, die sich darum bemühten, die Interessen der ‚Wirtschaft‘ zu verteidigen“ (S. 10). Die Veränderungen der 1960er-Jahre und vor allem die studentischen Protestbewegungen hätten die Erwartung zerstört, dass die sozialen Konflikte durch Wohlstandssteigerungen in der Konsumgesellschaft harmonisiert werden könnten (S. 26). Zunächst habe sich die Regierbarkeitskrise in den Unternehmen gezeigt, wo die Ansprüche und die Widerständigkeit der Arbeiter zugenommen hätten, weil unter den Bedingungen der Vollbeschäftigung kein existenzieller Druck mehr auf ihnen lastete. Dabei liest Chamayou die alarmistischen Pamphlete amerikanischer Manager und Berichte in Wirtschaftszeitschriften bisweilen wie faktische Beschreibungen der Zustände in den Fabriken, sodass man sich zu wundern beginnt, warum der Kapitalismus nicht zusammengebrochen ist.

Zurück auf der Wahrnehmungsebene, will er dann aber zeigen, wie Unternehmer, Ökonomen oder Think Tanks – wer eigentlich agiert, ist oft nicht klar – „angesichts der Krise der disziplinarischen Regierbarkeit“ eine neue Kunst der Arbeitsführung erfanden. Die martialische Rhetorik einiger der von ihm ausführlich zitierten Autoren übernehmend, beschreibt er in den folgenden Kapiteln den „Krieg gegen die Gewerkschaften“ (S. 42), den „Angriff auf das freie Unternehmertum“ (S. 97) und die Privatisierung von Staatsfunktionen als eine „Ideenschlacht“ (S. 107), in der sinistre Kräfte mit allen Mitteln gegen Emanzipationsbewegungen vorgingen. Dabei präsentiert Chamayou beeindruckende Quellen, etwa die US-amerikanische Broschüre „Gewerkschaften: wie vermeiden, wie besiegen, wie loswerden“, mit der für Schulungen von Führungskräften geworben wurde (S. 46), oder Handreichungen für den Umgang mit Kritik auf Jahreshauptversammlungen (S. 104) und Desinformationskampagnen gegen Vorwürfe ökologischen oder sozialen Fehlverhaltens. Dies sind alles wichtige Gegenstände und Themenfelder, die eine genaue historiographische Untersuchung, eine Bedeutungs- und Reichweitenabschätzung erfordern, wie sie etwa Naomi Oreskes und Erik M. Conway in ihrem Buch über die „Merchants of Doubt“ vorgelegt haben.1 Bei Chamayou werden sie jedoch weniger analysiert als vielmehr so arrangiert, dass sie sein Grundnarrativ eines einheitlichen Konfliktes stützen.

Wie sieht diese Erzählung aus? Zuerst versuchte die Nixon-Regierung mit einer inszenierten Rezession 1969/1970 die aufmüpfigen Arbeiter zu disziplinieren, indem sie bei ihnen soziale Ängste weckte, behauptet Chamayou im Anschluss an den Wirtschaftswissenschaftler Michael Perelman (S. 37). In den Unternehmen sei versucht worden, gewerkschaftliche Aktivität zu unterminieren. Zugleich habe die „Managerial Revolution“ die Notwendigkeit erzeugt, die Manager zu disziplinieren und auf den Erfolg des Unternehmens zu verpflichten. Zu diesem Zweck sei zunächst ein ethischer Managerialismus als Vorform der neoliberalen Gouvernementalität eingeführt und, als das nicht reichte, der „Shareholder Value“ als neues Erfolgskriterium inthronisiert worden. Damit erfolgte laut Chamayou die „Subsumption der oikonomia unter die katallaxia, der privaten Regierungsgewalt des Herrn unter die kosmische Ordnung der Märkte“ (S. 90, dortige Hervorhebungen). Der zunehmenden Kritik von Bürgerinitiativen an unmenschlichen, gesundheits- und umweltschädlichen Unternehmenspraktiken sei man mit Green- und Fairwashing-Kampagnen sowie der Erfindung der „Corporate Social Responsibility“ begegnet. Letztere und die Enthierarchisierung von Unternehmensstrukturen erscheinen bei Chamayou als schlecht camouflierte Herrschaftsinstrumente. Das gewandelte Verständnis der Firma im Anschluss an den Ökonomen Ronald Coase deutet er als Versuch, die Konzerne zu entwirklichen, um ihren Gegnern den Angriffspunkt zu nehmen (S. 130–133).

Während die ökonomische Macht so stabilisiert worden sei, sei zugleich versucht worden, „Unternehmen in die Lage zu versetzen, ‚Politik zu managen‘“ (S. 175). In der zweiten Hälfte des Buches schildert Chamayou erneut den inzwischen vielfach dargestellten Aufstieg des Neoliberalismus als Herrschaftsstruktur. Diesen sieht er bereits in den 1970er-Jahren in den multinationalen Konzernen präfiguriert und betont vor allem seine autoritäre Dimension. Angesichts der Unregierbarkeitsdiagnose diskutierten neoliberale Ökonomen in den 1970er- und 1980er-Jahren offen die Möglichkeit einer politischen Diktatur, um wirtschaftliche „Vernunft“ durchzusetzen. Noch einmal beschreibt Chamayou Friedrich A. Hayeks Faszination für Chile und dessen wiederholte Einschätzung, dass politische Freiheit optional sei, solange die wirtschaftliche Freiheit gewahrt bleibe (S. 280–293). Die „Quellen“ dieses „autoritären Liberalismus“ sieht der Autor bei Carl Schmitt in der Weimarer Republik (S. 294–306), wobei er die Analogie der Argumentationen belegt, nicht aber die Genealogie von Schmitt zu Hayek. Die Neoliberalen entschieden sich allerdings – in realistischer Einschätzung der eigenen Kräfte – gegen die offene Diktatur und vielmehr mit James M. Buchanan dafür, freie Wahlen beizubehalten, aber den Spielraum der gewählten Regierungen möglichst weitgehend einzuschränken (S. 310). Wohl in Unkenntnis Michel Foucaults entwickelte Madsen Pirie von der „Saint-Andrews-Gruppe“ eine Theorie der Mikropolitik als eine Technologie, deren Ziel (Privatisierung) durch die Neuausrichtung individueller Präferenzen mit den Mitteln des Social Engineering und durch „unsichtbare Manipulation“ erreicht werden sollte (S. 327). So sollte „Schritt für Schritt eine gesellschaftliche Ordnung entstehen […], die die meisten Leute mit Sicherheit nicht gewählt hätten, wenn sie ihnen im Ganzen präsentiert worden wäre“ (ebd.). Diese „neoliberale Mikropolitik“ wird dann bei Chamayou selbst zum überindividuellen geschichtsmächtigen Akteur: Sie „denkt langfristig und lässt sich Zeit. […] Das strategische Kalkül erstreckt sich hier über mehrere Generationen. Tatsächlich sind wir nach wie vor involviert.“ (S. 340)

Das ist Metaphysik, aber weder eine historiographische noch eine philosophische Auseinandersetzung mit den intellektuellen, ökonomischen und politischen Veränderungen der letzten 50 Jahre, die das Leben vieler Menschen tiefgreifend beeinflusst haben und damit zu Recht im Zentrum von Chamayous Buch stehen. Egal, ob publizistisch oder politisch motiviert: Das Vorgehen, Gut und Böse in der Erzählung eindeutig zu verteilen und im Kampf gegeneinander antreten zu lassen – oft im dramatischen Präsens –, verstellt die eigentlich interessanten Fragen. Es mag angenehm empörend sein, noch einmal auf wenigen Seiten zu lesen, wie offen sich Hayek und andere Neoliberale für Diktaturen wie Pinochets Chile begeisterten. Man erklärt aber Hayeks intellektuellen Appeal nicht, wenn man ihn nicht auch als Erkenntnistheoretiker begreift, der mit starken Argumenten die Perspektivität von Wissen hervorhob und die Möglichkeit zentraler Wirtschaftssteuerung grundsätzlich kritisierte. Genauso kann man die auf Coase zurückgehende „Economic Theory of Law“, der zufolge Rechtsentscheidungen nach Kosten/Nutzen-Erwägungen getroffen werden sollen, als amoralisch brandmarken. Aber was ist damit gewonnen? Natürlich ist sie nicht moralisch, sie ist ja ökonomisch, aber genau in dieser Rigorosität liegt auch ihre intellektuelle Attraktivität. Statt die Perversion von Versuchen zu beklagen, den Wert eines individuellen Lebens ökonomisch zu messen – und zwar über die Bereitschaft, für seine wahrscheinliche Verlängerung zu bezahlen („willingness to pay“) bzw. Kompensationen für seine wahrscheinliche Verkürzung anzunehmen („willingness to accept“) (S. 226) –, müsste man vielmehr die tatsächliche Wirkmächtigkeit solcher Vorstellungen ausweisen.

Dass Grégoire Chamayou eine engagierte Geschichte unserer Zeit geschrieben hat, in der er auch explizit gegen bestimmte Entwicklungen polemisiert, ist grundsätzlich zu begrüßen. Leider hat er es aber in einer wenig erhellenden, geradezu verschwörungstheoretischen Form getan, in der alles, was geschieht, geschehen muss, weil dunkle Mächte am Werk sind, die uns versklaven und sich bereichern wollen. Dass verschiedene Entwicklungen in eine Richtung laufen, heißt aber nicht, dass sie jemand geplant haben muss, und schon gar nicht kann das die „neoliberale Mikropolitik“ selbst getan haben, weil diese nämlich – anders als Chamayou suggeriert – kein handelndes Subjekt ist.

Anmerkung:
1 Naomi Oreskes / Erik M. Conway, Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming, London 2011; dt.: Die Machiavellis der Wissenschaft. Das Netzwerk des Leugnens. Übersetzt von Hartmut S. Leipner und Anna-Maria Leipner, Weinheim 2014.